Die Daten zeigen hier eine Perspektive auf politische Entscheidungsfindung und -durchsetzung, die drei Elemente miteinander unter expertokratisch und populistisch eingestellten Befragten gleichermaßen kombiniert: Erstens zeigen beide Perspektiven eine Ablehnung gegenüber gewählten Abgeordneten. Zweitens werden diesen Expert:innen als Entscheider:innen deutlich vorgezogen. Drittens bleibt der Volkswille in beiden Perspektiven letztlich das Element, nach dem politisch entschieden werden soll.
Wie kann man diesen von Befragten anhand der Daten gezeichneten „idealen politischen Entscheidungsprozess“ hinsichtlich der Bedeutung für unsere Demokratie interpretieren? Bei den Befragten wird ein Demokratieverständnis deutlich, das vor allem die Entscheidung durch das Volk als demokratisch versteht.
Die Ablehnung gegenüber Abgeordneten und der Wunsch nach Expert:innen verdeutlicht gleichzeitig, dass weder Repräsentation noch parlamentarische Aushandlung Bestandteile dieses Demokratieverständnisses sind. Wenn Demokratie diese Elemente im Verständnis dieser gesellschaftlichen Gruppen nicht mehr beinhaltet, wird sie auf ein Verfahren zur Regelsetzung und Entscheidungsfindung durch das Volk reduziert. Der Anspruch, den Repräsentation und parlamentarische Aushandlung sichern sollen – beispielsweise die Interessen einer vielfältigen Gesellschaft abzubilden und im politischen Prozess zu berücksichtigen – geraten damit im Verständnis von Demokratie in den Hintergrund.
Ergebnisse der qualitativen Phase
Die Ergebnisse der qualitativen Phase werden nun im Hinblick darauf dargestellt, ob sie die Interpretation der quantitativen Daten untermauern, oder gegebenenfalls einschränken. Dadurch, dass sehr populistisch eingestellte und sehr expertokratisch eingestellte Personen in tief gehenden Interviews befragt wurden, geben sie einen detaillierten Einblick in die jeweiligen Perspektiven auf politische Entscheidungsfindung. Dabei finden sich erstens detaillierte Gründe dafür, dass Expert:innen unter populistisch und expertokratisch Eingestellten beliebter sind als Politiker:innen. Zweitens zeigen sie, dass es gleichzeitig keine klare Definition unter den Befragten gibt, wer eigentlich Expert:in ist – die Autorität und „klare Führung“ scheint hier eher ausschlaggebend zu sein. Drittens wirkt sich diese positive Sicht auf die Rolle von Expert:innen auf die Anforderungen an Politiker:innen aus. Dies ist einerseits bedingt durch die komplexen Krisen unserer Zeit, andererseits durch ein fehlendes Wissen unter den Befragten über die Rolle und Funktion politischer Institutionen. Viertens und letztens wird – wie in den quantitativen Daten bereits vermutet – ein Demokratieverständnis unter Befragten beider Perspektiven deutlich, dass sich von der repräsentativen Demokratie als Regierungssystem entfernt. Genauer entwickelt sich eine Abneigung gegen die für dieses Demokratiemodell essenziellen Aspekte, wie die Wahl von Abgeordneten und dem zentralen Prozess der Aushandlung und Kompromissfindung zwischen unterschiedlichen Interessen.
Die positive und neutrale Sicht auf Expert:innen gegenüber der Politik
In den qualitativen Interviews wurde unter Teilnehmenden eine sehr positive Sicht auf Expert:innen – auch hier wurde der Begriff des/der „Expert:in“ nicht näher definiert – deutlich. Mehrere Proband:innen betonten die vermeintliche Neutralität der Handlungsempfehlung von Expert:innen gegenüber denen von Politiker:innen. So hieß es in einem der Interviews: „Politiker lügen viel eher als Wissenschaftler, weil Wissenschaftler ihre Thesen beweisen müssen.“ Die Entscheidungen von Politiker:innen wurden gegenüber wissenschaftlichen Erkenntnissen dabei immer wieder als „Parteimeinung“ dargestellt: „Ein Politiker braucht ein Expertenteam, die Entscheidung soll ja nicht nur seine Meinung sein.“ Auch wurde der Anspruch der Politik, im Sinne des Allgemeinwohls zu handeln, durch die Vermutung des stark ideologischen Standpunktes von Politiker:innen bezweifelt: „Politiker kümmern sich eher um ihre eigenen Ziele. Experten:innen haben Ziele im Blick, die gut für das Land sind.“ Es entsteht dabei der Eindruck, Politik gelte generell als zu ideologisch. Politiker:innen seien eher auf den eigenen (Wahl)Erfolg aus, als darauf, für die gesamte Gesellschaft eine gute Entscheidung zu treffen. So entstand immer wieder das Gefühl, Teilnehmende hätten den Verdacht, eine Entscheidung verfolge eigentlich unehrliche Absichten. Teils sehr explizit wurde dabei geäußert, dass Abgeordnete den Entscheidungsprozess im Vergleich zum ausschließlichen Expert:innen-Entscheid sogar verschlechtern: „Wenn zum Klimawandel ausschließlich Experten Entscheidungen treffen würden, wären wir schon weiter.“
Wissenschaft und Expert:innen erscheinen in den Interviews insgesamt als neutral, Politiker:innen, beziehungsweise Abgeordnete und deren Entscheidungen werden dagegen als „Meinung“, teils sogar als Täuschung zur Durchsetzung der eigenen parteipolitischen Position empfunden. Das Bild des/der Expert:in ist unter den Befragten deutlich positiver als das des/der Politiker:in. Es zeigt sich hier die Erwartung an Politiker:innen, Entscheidungen „neutral“ zu treffen und die eigene ideologische Position im Sinne der wissenschaftlichen Erkenntnis und des Allgemeinwohls zurückzustellen.
Wer ist eigentlich „Expert:in“? Die Auswahl der eigenen Autoritäten
Wer Expert:in ist, scheint von Befragten unterschiedlich verstanden zu werden. Ganz verschiedene Beispiele wurden von Proband:innen in den Interviews genannt, so sprechen Teilnehmende von „Experten im Bauwesen, Architekten, Bauarbeiter, Bauleiter, Techniker…“, die in politische Prozesse mit einbezogen werden sollten. In einem anderen Interview hieß es: „Wenn die AfD dran wäre, dann wären die Entscheidungen alle gut. Aktuell vertrauen wir auf die falschen Leute, denen die ganzen Lemminge folgen.“ Die hohe Zustimmung zu Expert:innen als „bessere“ politische Entscheider:innen erklärt sich somit wohl auch aus den unterschiedlichen Definitionen unter Befragten, wen man als Expert:in sieht.
An der Unklarheit darüber, wer jeweils Expert:in für einen bestimmten Bereich ist, zeigt sich, dass sich die Figur des/der Expert:in nicht zwingend am Wissen, sondern eher an der Autorität festmacht, die ihr in jeweiligen Diskursen von einer Gruppe zugesprochen wird. Die Tendenz zu einer Person mit dieser Autorität, die in komplexen Problemlagen eine Handlungsempfehlung abgibt, findet sich auch bei populistisch eingestellten Befragten. Das stützt die Vermutung, dass die Krisen der letzten Jahre eine allgemeine Tendenz hin zu „wissenden Autoritäten“ mit klaren Lösungen befördert haben. Der Wunsch, in diesen Situationen die Entscheidung an fachliche Expert:innen zu delegieren – wie auf Basis der quantitativen Ergebnisse bereits vermutet –, wird in den Interviews auch explizit benannt: „Viele Sachen sind so komplex, wie z.B. Waffenlieferung, dass ich sie nicht verstehen kann und froh bin, nicht entscheiden zu müssen.“
Gleichermaßen wird stark kritisiert, wenn Expert:innen sich widersprechen: „Wer ist denn Experte und was haben die zu sagen? Bei Corona gab es plötzlich ganz viele Experten und alle haben sich widersprochen.“ Bleibt die gewünschte klare Handlungsempfehlung aus, wird auch der Nutzen der Expert:innen bezweifelt: „Die Experten haben sich während Corona immer widersprochen. Jede Woche war der Streeck oder der Drosten im Fernseher und in der Zeitung und die haben ganz unterschiedliche Sachen gesagt. Was bringt das denn dann bitte, wenn die keine Lösungen haben?“ Auch zeigt sich hier ein Unverständnis dafür, dass wissenschaftliche Erkenntnisse untereinander in Konkurrenz stehen oder widerlegt werden können.
Personenfokus und Wunsch nach hoher Qualifikation der Politiker:innen
Bei den Proband:innen wurde ein zunehmender Fokus auf individuelle Politiker:innen deutlich, insbesondere auf Minister:innen. Diese wurden verstärkt losgelöst von ihren Parteien für bestimmte Entscheidungen als alleinverantwortlich angesehen. Damit einher geht der Wunsch nach fachlicher und akademischer Expertise für die Posten, die sie besetzen. So werden Christian Lindner und Karl Lauterbach von Proband:innen als positive Beispiele genannt. Lindner sei geeignet als Finanzminister, denn er habe „BWL studiert, das passt“, und „Lauterbach ist Arzt, der versteht auch alles, was andere Experten sagen.“
Die Fachkompetenz wird dabei gleichzeitig als Kriterium gesehen, das Politiker:innen auf ehrliche Art und Weise zu ihrem Posten bringt – im Gegensatz zu denjenigen Politiker:innen, die vermeintlich ohne fachlich passende Expertise einen bestimmten Posten besetzen. So wurde in einem Interview geäußert: „Wir brauchen Politiker, die das gelernt haben. Sonst kommen viele Politiker durch irgendwelche Parteimauscheleien auf die falschen Positionen.“
Neben dem fehlenden Wissen über politische Vorgänge und die Rolle von Minister:innen, zeigt sich eine starke Ablehnung gegenüber Parteien. Kompromisse zwischen zwei oder mehr politischen Akteuren werden nicht als legitime und notwendige Aushandlung unterschiedlicher Positionen wahrgenommen, sondern als „Mauscheleien“ empfunden. Anschließend an den Wunsch nach einer einzigen objektiv besten Lösung wird auch eine Sichtweise auf die Politik deutlich, die Kompromisse und Aushandlung verschiedener Standpunkte, ebenso wie unterschiedliche politische Positionen, nicht mehr anerkennt und abwertet. Die Vorstellung, es gäbe nur eine Lösung für bestimmte Probleme, die man kennen würde, wäre man fachlich qualifiziert, führt zu einem Verständnis von Politik, das Aushandlung politischer Positionen als Verfälschung dieser einen, besten Lösung missversteht.
Verlust der Wertschätzung für parlamentarische Aushandlungsprozesse
Politik und ihre Funktionsweise werden gegenüber der Wissenschaft in den Interviews oftmals als defizitär empfunden. Insbesondere parlamentarische Aushandlung wird in Themen wie Klimawandel oder Corona als überflüssig und sogar kontraproduktiv gegenüber der wissenschaftlichen Vorgabe von Expert:innen empfunden: „Ich habe den Eindruck, dass sich die Politiker zu wenig Rat bei Experten holen, die streiten ja immer nur und treten auf der Stelle.“
Hier zeigt sich ein fehlendes Verständnis für die Funktion und Aufgabe parlamentarischer Entscheidungsfindungen. Es fehlt die Perspektive auf Mehrdeutigkeit von politischen Entscheidungen: Politisch ist es eine Notwendigkeit, verschiedene wissenschaftliche Perspektiven einzubinden und plurale gesellschaftliche Interessen miteinander zu verbinden und eine Entscheidung zu treffen, die beides berücksichtigt.
Weil in diesem Prozess „jeder seinen Senf dazugeben“ könne, entsteht der Eindruck, dass Politik – wie bereits angedeutet – die wissenschaftliche Vorgabe ignoriere oder die Erkenntnisse verfälschen würde. Mehrmals äußern Proband: innen den Vorwurf, in der parlamentarischen Aushandlung werde die vermeintlich neutrale Wissenschaft mutwillig zugunsten der eigenen ideologischen Position ignoriert. Teils wird der Eindruck geteilt, die Politik entscheide „zu sehr aus dem Bauch heraus“, wenn zu einem Thema keine wissenschaftlichen Expert:innen zu Rate gezogen wurden.
Zudem wird in den qualitativen Interviews ein weiterer Punkt deutlich, der expertokratische und populistische Perspektiven auf Politik verbindet. Beide sehen weder Aushandlung noch Kompromisse als notwendig an. Bei ersterer wird die Handlungsempfehlung von Expert:innen als objektive Zielgröße gesetzt, die keiner weiteren Verhandlung bedarf. Letztere sieht den Mehrheitsentscheid eines homogenen Volkes als Vorgabe, die nicht weiterverhandelt werden muss. Während diese Sichtweisen bereits in den quantitativen Ergebnissen deutlich wurden, zeigen die qualitativen Ergebnisse, dass überflüssig angesehene Aushandlungen oftmals als defizitär, beinahe als Betrug, empfunden werden.