Wie wir
wirklich Leben

Studie zur Lebenswirklichkeit in Deutschland Philip Morris GmbH

Ergebnisse

Erwartungstypen

Wie schon in den beiden vorherigen Studien zur Lebenswirklichkeit in Deutschland, wurden auch in diesem Jahr fünf Erwartungstypen gebildet. Die Erwartungstypen zeigen verschiedene Gruppen in der Bevölkerung, die sich jeweils bezüglich der Zufriedenheit mit der eigenen Lebenssituation sowie mit der Politik in Deutschland unterscheiden. Die einzelnen Typen besitzen daher innerhalb der eigenen Gruppe ein ähnliches Antwortmuster, das sich deutlich von den jeweils anderen unterscheidet. Daher können diese Erwartungstypen als getrennte Gruppen bezeichnet werden. Jede:r der 5.252 Befragten kann somit einem Erwartungstyp zugeordnet werden. Abbildung 2 zeigt diediesjährige Verteilung der Erwartungstypen inklusive der Änderungswerte im Vergleich zu 2021.

Abb. 4

Einordnung der Erwartungstypen

  • Zufrieden Moderate
  • Umweltbewusste, engagierte Optimisten
  • Überforderte Ängstliche
  • Enttäuschte Radikale
  • Desinteressierte Zurückgezogene

Ergebnisse der quantitativen Befragung

Die Ergebnisse der quantitativen Phase der Befragung bilden einen wichtigen Bestandteil, um die Verbreitung von Expertokratie und Populismus in Deutschland besser verstehen zu können und herauszufinden, inwieweit beide Strömungen in Konkurrenz zueinanderstehen. Außerdem formen die gewonnenen Erkenntnisse eine essenzielle Grundlage für weitere Erhebungen, beispielsweise für die im weiteren Verlauf der Studie durchgeführten qualitativen Befragungen.

Verbreitung der Expertokratie und des Populismus in Deutschland

Um die grundlegende Frage zu beantworten, wie verbreitet beide Perspektiven insgesamt sind, zeigt Tabelle 3 (Abbildung 5) die Verteilung populistischer und expertokratischer Einstellungen in der deutschen Bevölkerung. Bei 19 Prozent der Befragten kann eine hohe Zustimmung zu Fragen, die auf eine populistische Einstellung schließen lassen, ausgemacht werden. 12% der Befragten zeigten eine hohe Ausprägung von expertokratischen Einstellungen. 

Abb. 5

Verteilung populistischer und expertokratischer Einstellungen in der deutschen Bevölkerung

Die Grenzwerte der jeweiligen Ausprägungen wurden wie folgt festgelegt: Hoch (Mittelwert von 4,0 bis 5,0), Mittel (3,1 bis 3,9), Gering (1,0 bis 3,0)

Verhalten der Expertokratie und des Populismus zueinander

Auf Basis der theoretischen Bestandteile beider Einstellungen wurde angenommen, dass diese sich als Gegenpole gegenseitig ausschließen. Das würde heißen, beide Einstellungen sind miteinander unvereinbar, sie schließen sich gegenseitig aus. In den Ergebnissen müsste sich nach dieser Annahme zeigen, dass populistisch eingestellte Befragte expertokratische Einstellungen ablehnen oder ihnen zumindest nur gering zustimmen, und umgekehrt expertokratisch eingestellte Personen, populistischen Einstellungen kaum zustimmen. Kurz: Je populistischer, desto weniger expertokratisch. Es wird ein negativer Zusammenhang zwischen beiden Faktoren vermutet. 

Den Ergebnissen der Studie zufolge ist das Gegenteil der Fall: Die Korrelation zwischen dem Faktor Expertokratie und dem Faktor Populismus ist schwach positiv. Beide Perspektiven schließen sich damit nicht gegenseitig aus oder lehnen sich untereinander ab. Sie hängen sogar tendenziell zusammen: Befragte, die stark populistisch eingestellt sind, tendieren dazu, auch expertokratischen Items zuzustimmen – und andersherum. Für eine niedrige Ausprägung gilt der Zusammenhang ebenfalls: Haben Befragte geringe populistische Einstellungen, stimmen sie tendenziell auch den expertokratischen Items in geringerem Maße zu. Die Annahme der Konkurrenz zwischen beiden Einstellungen ist damit widerlegt – beide Einstellungen können tendenziell miteinander einhergehen.

Abb. 6

Interpretation: Konstrukte Expertokratie und Populismus gehen miteinander einher

Tabelle 4 (Abbildung 7) zeigt einzelne Fragen, aus denen sich Gründe für die Verbreitung beider Sichtweisen bei den befragten Bürger:innen ableiten lassen. Zudem sind Fragen aufgeführt, die mögliche Gründe dafür zeigen, dass sich beide Perspektiven nicht gegenseitig ausschließen. In der Tabelle ist jeweils die Zustimmung der Stichprobe insgesamt, unter sehr expertokratisch eingestellten Befragten und schließlich unter sehr populistisch eingestellten Befragten dargestellt. 

Abb. 7

Zustimmungsraten zu ausgewählten Aussagen der quantitativen Befragung

Dunkler markiert sind die jeweils höchsten Zustimmungsraten innerhalb der drei Vergleichsgruppen

Die Tabelle zeigt, dass sowohl populistisch als auch expertokratisch eingestellte Befragte die aktuellen politischen Probleme im Vergleich zur gesamten deutschen Bevölkerung als überdurchschnittlich komplex empfinden. Besonders die starke Zustimmung (84 Prozent) unter denjenigen Befragten, die zu expertokratischen Einstellungen tendieren, zeigt einen möglichen Grund für die Befürwortung von Expert:innen als politische Entscheider:innen: Das Gefühl, aktuelle Probleme würden einen selbst überfordern könnte zur Hinwendung zu fachlich spezialisierten Expert:innen führen. 

Auch zeigt Tabelle 4 (Abbildung 7), dass die Corona-Pandemie unter populistisch und expertokratisch eingestellten Befragten einen starken Einfluss auf die jeweiligen Sichtweisen hatte: 77 Prozent der expertokratisch Eingestellten geben die Pandemie als Situation an, die die Kompetenz von Expert:innen gegenüber Politiker:innen verdeutlicht habe. Unter populistisch Eingestellten geben 78 Prozent an, die Pandemie habe gezeigt, dass der Volkswille eigentlich missachtet werde und nur Eliten regieren. Die Pandemie wird von Befragten also als Faktor benannt, der zwei zentrale inhaltliche Elemente beider Perspektiven verstärkt hat: Einerseits als zentrale Element des Expertokratismus, die Empfindung, dass Expert:innen in Krisensituationen bessere Entscheidungsträger: innen sind als Politiker: innen, andererseits das Gefühl, der „Wille des Volkes“ werde von Eliten missachtet als zentrales Element von Populismus. Zu beachten ist hier auch die hohe Zustimmung unter populistisch Eingestellten für Expert:innen als Entscheider:innen in Krisensituationen (59 Prozent). Damit zeigt sich ein wichtiger Punkt, an dem sich beide Einstellungen überschneiden: Gegenüber Politiker:innen werden Expert:innen unter Befragten beider Einstellungen als geeigneter empfunden.

Die Ergebnisse auf die Frage nach den favorisierten politischen Entscheidungsgremien (s. Tabelle 4/Abbildung 7) bekräftigt zunächst die vorangegangene Interpretation: Expert:innen werden aufgrund ihres Fachwissens von beiden Gruppen nicht nur in Krisensituationen, sondern auch insgesamt  Politiker:innen als Entscheider:innen vorgezogen. Auch Fachräte, verstanden als Gremien aus fachlich spezialisierten Personen, werden von Befragten beider Einstellungen als vertrauensvoller in ihren Entscheidungen bewertet als Politiker:innen.

Dieser Punkt widerspricht dabei eigentlich den theoretischen Überlegungen zu Populismus: In der Theorie ist es Bestandteil populistischer Perspektiven auf Politik, das Volk als bestimmend anzusehen. Damit werden Expert:innen und Politiker:innen gleichermaßen – im Populismus meist verstanden als Teile der Elite – abgelehnt. Das geht nicht aus den Daten hervor: Auch populistisch eingestellte Befragte stimmen Fragen zu, die Expert:innen als gute politische Entscheider:innen benennen.  Eine naheliegende Vermutung wäre, dass die Komplexität der Krisen der letzten Jahre auch unter populistisch eingestellten Befragten zu einer stärkeren Befürwortung von Expert:innen geführt hat.

Etwas widersprüchlich zu der vorangegangenen Interpretation scheint die hohe Zustimmung zu Fragen, die trotz aller Befürwortung von Expert:innen in der Politik den Volkswillen und die Bedürfnisse der Gesellschaft als letztlich wichtigstes Element herausstellen. Das heißt, für Befragte sollen wissenschaftliche Erkenntnisse politische Entscheidungen zwar anleiten, aber sie dürfen trotzdem nicht dazu führen, dass entgegen den Bedürfnissen der Gesellschaft entschieden wird. Die hohe Zustimmung zu diesen Aussagen (57 Prozent bei expertokratisch Eingestellten, 70 Prozent bei populistisch Eingestellten), die eigentlich den Anspruch parlamentarischer Demokratien beschreiben, erscheinen angesichts der Ablehnung gegenüber gewählten Politiker:innen in den übrigen Fragen in Tabelle 4 (Abbildung 7) widersprüchlich. Auch Tabelle 5 (Abbildung 8) zeigt diese Perspektive auf politische Entscheidungs- und Durchsetzungsprozess noch einmal verdichtet. Interessant ist hier, dass sich auch bezogen auf die gesamte Stichprobe eine ähnliche Zustimmung zu den gewünschten politischen Entscheider:innen abzeichnet.

Abb. 8

Perspektiven auf Gesetzgebung in Deutschland

Die Grenzwerte der jeweiligen Ausprägungen wurden wie folgt festgelegt: Hoch (Mittelwert von 4,0 bis 5,0), Mittel (3,1 bis 3,9), Gering (1,0 bis 3,0)

Die Daten zeigen hier eine Perspektive auf politische Entscheidungsfindung und -durchsetzung, die drei Elemente miteinander unter expertokratisch und populistisch eingestellten Befragten gleichermaßen kombiniert: Erstens zeigen beide Perspektiven eine Ablehnung gegenüber gewählten Abgeordneten. Zweitens werden diesen Expert:innen als Entscheider:innen deutlich vorgezogen. Drittens bleibt der Volkswille in beiden Perspektiven letztlich das Element, nach dem politisch entschieden werden soll. 

Wie kann man diesen von Befragten anhand der Daten gezeichneten „idealen politischen Entscheidungsprozess“ hinsichtlich der Bedeutung für unsere Demokratie interpretieren? Bei den Befragten wird ein Demokratieverständnis deutlich, das vor allem die Entscheidung durch das Volk als demokratisch versteht. 

Die Ablehnung gegenüber Abgeordneten und der Wunsch nach Expert:innen verdeutlicht gleichzeitig, dass weder Repräsentation noch parlamentarische Aushandlung Bestandteile dieses Demokratieverständnisses sind. Wenn Demokratie diese Elemente im Verständnis dieser gesellschaftlichen Gruppen nicht mehr beinhaltet, wird sie auf ein Verfahren zur Regelsetzung und Entscheidungsfindung durch das Volk reduziert. Der Anspruch, den Repräsentation und parlamentarische Aushandlung sichern sollen – beispielsweise die Interessen einer vielfältigen Gesellschaft abzubilden und im politischen Prozess zu berücksichtigen – geraten damit im Verständnis von Demokratie in den Hintergrund.

Ergebnisse der qualitativen Phase

Die Ergebnisse der qualitativen Phase werden nun im Hinblick darauf dargestellt, ob sie die Interpretation der quantitativen Daten untermauern, oder gegebenenfalls einschränken. Dadurch, dass sehr populistisch eingestellte und sehr expertokratisch eingestellte Personen in tief gehenden Interviews befragt wurden, geben sie einen detaillierten Einblick in die jeweiligen Perspektiven auf politische Entscheidungsfindung. Dabei finden sich erstens detaillierte Gründe dafür, dass Expert:innen unter populistisch und expertokratisch Eingestellten beliebter sind als Politiker:innen. Zweitens zeigen sie, dass es gleichzeitig keine klare Definition unter den Befragten gibt, wer eigentlich Expert:in ist – die Autorität und „klare Führung“ scheint hier eher ausschlaggebend zu sein. Drittens wirkt sich diese positive Sicht auf die Rolle von Expert:innen auf die Anforderungen an Politiker:innen aus. Dies ist einerseits bedingt durch die komplexen Krisen unserer Zeit, andererseits durch ein fehlendes Wissen unter den Befragten über die Rolle und Funktion politischer Institutionen. Viertens und letztens wird – wie in den quantitativen Daten bereits vermutet – ein Demokratieverständnis unter Befragten beider Perspektiven deutlich, dass sich von der repräsentativen Demokratie als Regierungssystem entfernt. Genauer entwickelt sich eine Abneigung gegen die für dieses Demokratiemodell essenziellen Aspekte, wie die Wahl von Abgeordneten und dem zentralen Prozess der Aushandlung und Kompromissfindung zwischen unterschiedlichen Interessen.

Die positive und neutrale Sicht auf Expert:innen gegenüber der Politik

In den qualitativen Interviews wurde unter Teilnehmenden eine sehr positive Sicht auf Expert:innen – auch hier wurde der Begriff des/der „Expert:in“ nicht näher definiert – deutlich. Mehrere Proband:innen betonten die vermeintliche Neutralität der Handlungsempfehlung von Expert:innen gegenüber denen von Politiker:innen. So hieß es in einem der Interviews: „Politiker lügen viel eher als Wissenschaftler, weil Wissenschaftler ihre Thesen beweisen müssen.“ Die Entscheidungen von Politiker:innen wurden gegenüber wissenschaftlichen Erkenntnissen dabei immer wieder als „Parteimeinung“ dargestellt: „Ein Politiker braucht ein Expertenteam, die Entscheidung soll ja nicht nur seine Meinung sein.“ Auch wurde der Anspruch der Politik, im Sinne des Allgemeinwohls zu handeln, durch die Vermutung des stark ideologischen Standpunktes von Politiker:innen bezweifelt: „Politiker kümmern sich eher um ihre eigenen Ziele. Experten:innen haben Ziele im Blick, die gut für das Land sind.“ Es entsteht dabei der Eindruck, Politik gelte generell als zu ideologisch. Politiker:innen seien eher auf den eigenen (Wahl)Erfolg aus, als darauf, für die gesamte Gesellschaft eine gute Entscheidung zu treffen. So entstand immer wieder das Gefühl, Teilnehmende hätten den Verdacht, eine Entscheidung verfolge eigentlich unehrliche Absichten. Teils sehr explizit wurde dabei geäußert, dass Abgeordnete den Entscheidungsprozess im Vergleich zum ausschließlichen Expert:innen-Entscheid sogar verschlechtern: „Wenn zum Klimawandel ausschließlich Experten Entscheidungen treffen würden, wären wir schon weiter.“

Wissenschaft und Expert:innen erscheinen in den Interviews insgesamt als neutral, Politiker:innen, beziehungsweise Abgeordnete und deren Entscheidungen werden dagegen als „Meinung“, teils sogar als Täuschung zur Durchsetzung der eigenen parteipolitischen Position empfunden. Das Bild des/der Expert:in ist unter den Befragten deutlich positiver als das des/der Politiker:in. Es zeigt sich hier die Erwartung an Politiker:innen, Entscheidungen „neutral“ zu treffen und die eigene ideologische Position im Sinne der wissenschaftlichen Erkenntnis und des Allgemeinwohls zurückzustellen.

Wer ist eigentlich „Expert:in“? Die Auswahl der eigenen Autoritäten

Wer Expert:in ist, scheint von Befragten unterschiedlich verstanden zu werden. Ganz verschiedene Beispiele wurden von Proband:innen in den Interviews genannt, so sprechen Teilnehmende von „Experten im Bauwesen, Architekten, Bauarbeiter, Bauleiter, Techniker…“, die in politische Prozesse mit einbezogen werden sollten. In einem anderen Interview hieß es: „Wenn die AfD dran wäre, dann wären die Entscheidungen alle gut. Aktuell vertrauen wir auf die falschen Leute, denen die ganzen Lemminge folgen.“ Die hohe Zustimmung zu Expert:innen als „bessere“ politische Entscheider:innen erklärt sich somit wohl auch aus den unterschiedlichen Definitionen unter Befragten, wen man als Expert:in sieht.

An der Unklarheit darüber, wer jeweils Expert:in für einen bestimmten Bereich ist, zeigt sich, dass sich die Figur des/der Expert:in nicht zwingend am Wissen, sondern eher an der Autorität festmacht, die ihr in jeweiligen Diskursen von einer Gruppe zugesprochen wird. Die Tendenz zu einer Person mit dieser Autorität, die in komplexen Problemlagen eine Handlungsempfehlung abgibt, findet sich auch bei populistisch eingestellten Befragten. Das stützt die Vermutung, dass die Krisen der letzten Jahre eine allgemeine Tendenz hin zu „wissenden Autoritäten“ mit klaren Lösungen befördert haben. Der Wunsch, in diesen Situationen die Entscheidung an fachliche Expert:innen zu delegieren – wie auf Basis der quantitativen Ergebnisse bereits vermutet –, wird in den Interviews auch explizit benannt: „Viele Sachen sind so komplex, wie z.B. Waffenlieferung, dass ich sie nicht verstehen kann und froh bin, nicht entscheiden zu müssen.“ 

Gleichermaßen wird stark kritisiert, wenn Expert:innen sich widersprechen: „Wer ist denn Experte und was haben die zu sagen? Bei Corona gab es plötzlich ganz viele Experten und alle haben sich widersprochen.“ Bleibt die gewünschte klare Handlungsempfehlung aus, wird auch der Nutzen der Expert:innen bezweifelt: „Die Experten haben sich während Corona immer widersprochen. Jede Woche war der Streeck oder der Drosten im Fernseher und in der Zeitung und die haben ganz unterschiedliche Sachen gesagt. Was bringt das denn dann bitte, wenn die keine Lösungen haben?“ Auch zeigt sich hier ein Unverständnis dafür, dass wissenschaftliche Erkenntnisse untereinander in Konkurrenz stehen oder widerlegt werden können.

Personenfokus und Wunsch nach hoher Qualifikation der Politiker:innen

Bei den Proband:innen wurde ein zunehmender Fokus auf individuelle Politiker:innen deutlich, insbesondere auf Minister:innen. Diese wurden verstärkt losgelöst von ihren Parteien für bestimmte Entscheidungen als alleinverantwortlich angesehen. Damit einher geht der Wunsch nach fachlicher und akademischer Expertise für die Posten, die sie besetzen. So werden Christian Lindner und Karl Lauterbach von Proband:innen als positive Beispiele genannt. Lindner sei geeignet als Finanzminister, denn er habe „BWL studiert, das passt“, und „Lauterbach ist Arzt, der versteht auch alles, was andere Experten sagen.“

Die Fachkompetenz wird dabei gleichzeitig als Kriterium gesehen, das Politiker:innen auf ehrliche Art und Weise zu ihrem Posten bringt – im Gegensatz zu denjenigen Politiker:innen, die vermeintlich ohne fachlich passende Expertise einen bestimmten Posten besetzen. So wurde in einem Interview geäußert: „Wir brauchen Politiker, die das gelernt haben. Sonst kommen viele Politiker durch irgendwelche Parteimauscheleien auf die falschen Positionen.“

Neben dem fehlenden Wissen über politische Vorgänge und die Rolle von Minister:innen, zeigt sich eine starke Ablehnung gegenüber Parteien. Kompromisse zwischen zwei oder mehr politischen Akteuren werden nicht als legitime und notwendige Aushandlung unterschiedlicher Positionen wahrgenommen, sondern als „Mauscheleien“ empfunden. Anschließend an den Wunsch nach einer einzigen objektiv besten Lösung wird auch eine Sichtweise auf die Politik deutlich, die Kompromisse und Aushandlung verschiedener Standpunkte, ebenso wie unterschiedliche politische Positionen, nicht mehr anerkennt und abwertet. Die Vorstellung, es gäbe nur eine Lösung für bestimmte Probleme, die man kennen würde, wäre man fachlich qualifiziert, führt zu einem Verständnis von Politik, das Aushandlung politischer Positionen als Verfälschung dieser einen, besten Lösung missversteht.

Verlust der Wertschätzung für parlamentarische Aushandlungsprozesse

Politik und ihre Funktionsweise werden gegenüber der Wissenschaft in den Interviews oftmals als defizitär empfunden. Insbesondere parlamentarische Aushandlung wird in Themen wie Klimawandel oder Corona als überflüssig und sogar kontraproduktiv gegenüber der wissenschaftlichen Vorgabe von Expert:innen empfunden: „Ich habe den Eindruck, dass sich die Politiker zu wenig Rat bei Experten holen, die streiten ja immer nur und treten auf der Stelle.“

Hier zeigt sich ein fehlendes Verständnis für die Funktion und Aufgabe parlamentarischer Entscheidungsfindungen. Es fehlt die Perspektive auf Mehrdeutigkeit von politischen Entscheidungen: Politisch ist es eine Notwendigkeit, verschiedene wissenschaftliche Perspektiven einzubinden und plurale gesellschaftliche Interessen miteinander zu verbinden und eine Entscheidung zu treffen, die beides berücksichtigt.  

Weil in diesem Prozess „jeder seinen Senf dazugeben“ könne, entsteht der Eindruck, dass Politik – wie bereits angedeutet – die wissenschaftliche Vorgabe ignoriere oder die Erkenntnisse verfälschen würde. Mehrmals äußern Proband: innen den Vorwurf, in der parlamentarischen Aushandlung werde die vermeintlich neutrale Wissenschaft mutwillig zugunsten der eigenen ideologischen Position ignoriert. Teils wird der Eindruck geteilt, die Politik entscheide „zu sehr aus dem Bauch heraus“, wenn zu einem Thema keine wissenschaftlichen Expert:innen zu Rate gezogen wurden.

Zudem wird in den qualitativen Interviews ein weiterer Punkt deutlich, der expertokratische und populistische Perspektiven auf Politik verbindet. Beide sehen weder Aushandlung noch Kompromisse als notwendig an. Bei ersterer wird die Handlungsempfehlung von Expert:innen als objektive Zielgröße gesetzt, die keiner weiteren Verhandlung bedarf. Letztere sieht den Mehrheitsentscheid eines homogenen Volkes als Vorgabe, die nicht weiterverhandelt werden muss. Während diese Sichtweisen bereits in den quantitativen Ergebnissen deutlich wurden, zeigen die qualitativen Ergebnisse, dass überflüssig angesehene Aushandlungen oftmals als defizitär, beinahe als Betrug, empfunden werden.